Du sollst keine anderen Götter verehren! Ein psychologisches Gebot

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In den letzten Jahren ist das Interesse am Thema Glauben stark gestiegen. Viele Menschen fühlen sich von politischen, wissenschaftlichen, aber auch kirchlichen Institutionen im Stich gelassen. Sie suchen nach Trost, Hoffnung und Kraft. Eine besondere Quelle dafür findet sich weniger in einer seichten Wohlfühl-Spiritualität als in den Grundfesten unserer eigenen Kultur. Welche psychologische Wirkung hat der Glaube an Gott, der die westliche Kultur so maßgeblich inspiriert hat? Dr. Raphael Bonelli bietet eine psychologische Erklärung.

Was glauben wir wirklich?

Uns ist kaum bewusst, was wir wirklich glauben. Das mag provokant klingen, aber das ist die psychologische Wirklichkeit. Den größten Teil unserer Überzeugungen haben wir uns nicht selbst ausgedacht.

Die grundlegenden Werte, die wir hegen, sind das Resultat einer langen psychologischen Entwicklung, die sich über Generationen erstreckt hat. Unsere Art zu denken, zu fühlen und zu handeln kommt durch unterschiedliche Prägungen zustande. Diese Prägungen sind zum Teil individuell bedingt, aber in noch größerem Maß von biologischen und kulturellen Aspekten bestimmt. Die Prägung unserer Identität geschieht vorwiegend unbewusst, ohne dass wir sie hinterfragen oder reflektieren.

Das, was wir wirklich glauben, äußert sich in unseren Handlungen. Der klinische Psychologe Jordan Peterson schrieb in seinem Ratgeber 12 Rules for Life, man könne leicht behaupten, ein Atheist zu sein. Doch das persönliche Bekenntnis sei völlig nebensächlich. Entscheidend ist, ob und wie man seinen Glauben praktiziert. Nur ein Atheist, der auch bereit ist, gottlos zu handeln, könne als wahrer Atheist gelten. Gottloses Handeln bedeutet, der Schöpfung Gottes mit völliger Verachtung zu begegnen – sei es aus Selbstsucht oder aufgrund der Auffassung, dass die Welt und das Leben sinnlos seien.

Trotz der Zerfallserscheinungen unserer Zeit bestimmt die grundsätzliche Achtung vor dem Leben noch immer das Verhalten der Mehrheit. Unsere heutige Existenz in relativem Frieden und Wohlstand wurde durch unsere Geschichte grundgelegt. Konkret heißt das, dass wir als Europäer noch immer von unserem jüdisch-christlichen Erbe geprägt sind. Das trifft zu, auch wenn viele von uns mit Religion nichts am Hut zu haben meinen.

Der Anfang unserer Zivilisation

Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler begann sein vier-bändiges Werk Geschichte des Westens mit den Worten: „Am Anfang war ein Glaube, der Glaube an einen Gott.“ Im jüdisch-christlichen Glauben an diesen einen Gott liegt auch der Ursprung der westlichen Psyche. Gerade auch jene Menschen, die sich heute als konfessionsfreie Weltbürger begreifen, sind unbewusst noch immer von biblischen Werten beeinflusst.

Peterson schreibt über die Bibel:

„Die Bibel ist wohl oder übel das grundlegende Dokument der westlichen Zivilisation, d.h. westliche Werte, westliche Moral und westliche Vorstellungen von Gut und Böse. (…) Die Bibel wurde hochgeworfen aus den Tiefen der kollektiven Imagination, die selbst wiederum das jahrtausendealte Produkt von unvorstellbaren inneren und äußeren Kräften ist.“ (Peterson 2018: 104, Übersetzung RPP)

Wenn wir also uns selbst und was wir glauben verstehen wollen, lohnt es sich die Bibel zu untersuchen. Aufgrund ihrer herausragenden kulturellen Bedeutung kann uns die Bibel wie kaum ein anderer Text tiefe Erkenntnisse über unser eigenes Selbst offenbaren.

Die Psychologie des ersten Gebotes

Die Säule der westlichen Moral sind die zehn Gebote. Diese werden im Alten Testament aufgezählt und sind also für Juden und Christen gleichermaßen bindend. Dr. Raphael Bonelli hat eine psychologische Deutung der zehn Gebote versucht.

Ein Teil der zehn Gebote betrifft die Beziehung des Menschen zu Gott. Die entsprechenden Gebote fordern vom Menschen, sich selbst zu überwinden (d.h. zu transzendieren), um einer höheren Wirklichkeit zu begegnen. Diese höhere Wirklichkeit kann man religiös als „Gott“ oder philosophisch als das Ideal des „Wahren, Schönen und Guten“ begreifen.

Das erste Gebot im Wortlaut:

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe. Du sollst keine andern Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Götterbild machen, auch keinerlei Abbild dessen, was oben im Himmel oder was unten auf der Erde oder was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor ihnen nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen. (2. Mose 20,2-5)

„Ägypten“ steht für ein tyrannisches politisches System, das keine Menschenwürde und keine Gnade kennt. Der jüdische Gott hat sein Volk in seiner Bedrängnis erhört. Er ist nicht nur ein Konzept, sondern eine liebende und mitfühlende Persönlichkeit. Gott hat eine Alternative zur Sklaverei: die Freiheit. Aber die Freiheit hat einen Preis, nämlich Disziplin und die treue Bindung an den einen Gott.

Innere Ordnung als Quelle der Kraft

Das erste Gebot warnt vor Loyalitätskonflikten. Gott ist eifersüchtig. Er duldet keine anderen Götter. Psychologisch gesprochen sind die Götzen vielfältig: der Chef, der gute Ruf, der Job oder der Mammon (das biblische Wort für das liebe Geld). Aber auch der Partner, die Kinder oder die Mutter können uns so sehr vereinnahmen, dass wir ihnen und ihren Launen völlig erliegen. Dann werden sie, biblisch gesprochen, zu unseren Götzen – also „Idolen“ oder falschen Göttern. Das erste Gebot fordert aber von uns, eine klare Priorität im Leben zu haben. Alles andere muss sich dem unterordnen. Somit entwickeln wir eine innere Ordnung, die uns frei macht.

Gott steht hierarchisch über allen weltlichen Werten. Das jüdische Bilderverbot hat im ersten Gebot seinen Ursprung. Keine materielle Darstellung von Gott sei ihm ebenbürtig. Es handelt sich um eine Warnung, sich nicht von sinnlichen Eindrücken blenden zu lassen. Das Wesentliche ist unsichtbar, aber wir können es mit dem Herzen erfassen.

Der eine Gott ist kompromisslos. Vor keinem Politiker, keinem „Experten“, keinem Superstar und keiner öffentlichen Meinung – nur vor Gott sollen wir uns niederwerfen. So eine Haltung erfordert Rückgrat, Mut und Aufrichtigkeit.

Freiheit von und Freiheit für

Zusammengefasst lässt sich das erste Gebot psychologisch so deuten: Setze klare Prioritäten im Leben. Wähle an oberster Stelle das Göttliche, das das Wahre, Gute und Schöne hervorbringt. Alles andere ist diesem Prinzip nachgeordnet: Partner, Kinder, Freunde, Karriere usw. Dr. Bonelli empfiehlt gemeinsam mit dem Partner und der Familie nach dem Göttlichen zu streben. Man solle nicht mit Gott brechen, nur um den Eltern, dem Arbeitsgeber oder der öffentlichen Meinung zu gefallen.

Der entscheidende Punkt ist: Der biblische Gott ist nicht einfach ein unsichtbarer Übervater oder Diktator, der willkürlich herrscht. Gott will unsere Freiheit, aber Freiheit setzt eine innere Ordnung voraus. Die zehn Gebote bilden einen ethischen Schutzwall, der ein Leben in Würde und Freiheit ermöglicht.

Gott hat sein Volk von der Sklaverei befreit, aber er hat sie auch für eine Sache frei gemacht. An Gott zu glauben, bedeutet zum einen das Vertrauen, dass die Welt im Grunde gut beschaffen ist. Zum anderen bedeutet Glaube auch Auftrag, als „Kinder Gottes“ das Gute in der Welt zu vermehren. Dort, wo sich das Herz für das Gute öffnet, entfaltet sich die psychologische Kraft des Glaubens.  

Bildquellen
https://pixabay.com/photos/person-sit-bench-alone-sitting-5956897/
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