Das Klima im Internet wird zunehmend lebensfeindlich. Immer mehr Menschen werden zum Opfer eines Shitstorms. Dieser führt zur Demütigung bis hin zur medialen Hinrichtung von Einzelpersonen oder Menschengruppen. Während das Internet relativ neu ist, ist die Psychologie des Shitstorms ein alter Hut.
Der Shitstorm und die neue Kultur der Empörung
Hoffentlich werden Sie so etwas nie erleben müssen. Denn im digitalen Zeitalter kann es schnell passieren. Zuerst wird die eigene Botschaft („Es gibt Männer und Frauen“) von einer anderen Person selektiv wahrgenommen und verzerrt wiedergegeben („Psychiater B. ist transphob“). Diese schräge Darstellung wird dann öffentlich verbreitet, häufig über Facebook oder Twitter (neuerdings „X“). Wie die Aasgeier stürzen sich die Medien auf das frische Opfer. Und in Windeiseile verbreitet sich die Verleumdung – in kleinen Häppchen und in alle Richtungen. Schnell, effektiv, gehässig – und in der Regel sachlich nicht gerechtfertigt.
Die Kultur der Empörung ist ein Phänomen unserer Zeit. Vor zehn Jahren nahm das Wort Shitstorm Einzug in den deutschen Duden, wo er als „Sturm der Entrüstung“ definiert wird. Ein solcher breitet sich vor allem über das Internet aus und geht „zum Teil mit beleidigenden Äußerungen“ einher. Noch treffender beschreibt Wikipedia dieses mediale Schauspiel als „lawinenartiges Auftreten negativer Kritik“ bis hin zur Schmähkritik.
Hetzkampagnen arbeiten mit Ekelgefühlen
Eine überschießende emotionale Reaktion einer einzigen Person lässt sich heute in Echtzeit unter die Massen bringen. Unliebsame Menschen können somit gezielt und ohne besonderen Aufwand an den Pranger gestellt werden. Die Welle der Empörung kann dabei so überwältigend sein, dass nur wenige Leser oder Zuschauer die Aufregung hinterfragen. Viele werden vom Strom der öffentlichen Meinung einfach mitgerissen. Nach einer medialen Hetzkampagne begnügen sich spätere Berichte nur noch damit, dass die betroffene Person als „umstritten“ gilt. Was diese Person genau gesagt oder getan hat, das angeblich so abscheulich war, wird dann nicht mehr diskutiert. Die betroffene Person hat oft keine Möglichkeit, sich gegen die Vorwürfe zu wehren.
So funktioniert das „Abstempeln“. Die Person zählt dann einfach zu den „Bösen“. Die Empörten zählen auf, was sie an der Person als ekelhaft empfinden: Ihre Meinung sei nicht korrekt oder die Person sei an sich einfach gemein. Zu links, zu rechts, oder sonst irgendwie radikal und gesellschaftlich nicht akzeptabel. Es wird kein eigentliches Argument mehr vorgebracht. Die Leser oder Zuschauer werden nicht zum Reflektieren angeregt. Man will erreichen, dass sie sich der allgemeinen Empörung einfach anschließen. Nach wenigen Tagen – manchmal auch Wochen – ist der Sturm der Entrüstung dann abgeebbt und wird durch die nächsten Schlagzeilen überlagert.
Mob und mediale Hinrichtung
Was bleibt ist eine Spur der Verwüstung auf Google und Twitter. So schnell wie ein Ruf zerstört werden kann, lässt er sich nicht wiederherstellen. Ein Shitstorm kann zu Rufmord führen, was auf Betroffene enorme seelische Auswirkungen hat. Auch einem unbescholtenen Arzt kann es schnell passieren, dass er medial hingerichtet wird. Dafür müssen sich nur ein paar Patienten darüber aufregen, dass sie mit dem falschen Medikament behandelt worden wären oder dass sie die falsche Diagnose erhalten hätten. Wenn dieser Fall mit einem bestimmten „Framing“ (Umrahmung) überzeugend erzählt wird, kann das leicht eine Kaskade an negativen Meldungen loslösen. Wenn der Shitstorm groß genug ist, bleibt dem Arzt nichts anderes übrig, als die Praxis zu schließen.
Öffentliche Ächtung zielt darauf ab, Scham zu erzeugen. Wenn Menschen auf diese Weise schlechtgemacht werden, hat das psychologische, soziale und wirtschaftliche Konsequenzen. Das ist die Macht des Pöbels: Pure Emotion und Vernichtungsdrang ohne Reflektion. Der aufgebrachte Mob ist an Fakten nicht interessiert. Er vertraut der Autorität der veröffentlichten Meinung.
Das ist die Psychologie des Shitstorms. Es wird behauptet, dass jemand etwas ganz Unerhörtes gesagt oder getan hat, ohne genauer auf den eigentlichen Sachverhalt einzugehen. Daraufhin erfolgt die allgemeine Empörung. Hierbei geht es nicht um eine reflektierte Beschäftigung mit einem Thema. Schließlich ist die Empörung gewollt. Sie wird erzeugt durch eine Geschichte, die so gestrickt ist, dass sie nur die Bauchgefühle anspricht.