Freuds größter Fehler

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Sigmund Freud, der Wiener Arzt und Begründer der Tiefenpsychologie, entwickelte ein bahnbrechendes Modell der menschlichen Psyche. Dieses umfasst die drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich. Dr. Raphael Bonelli schlägt ebenso eine dreiteilige Struktur der Psyche vor. Seine Psychologie des Herzens knüpft in weiten Teilen an Freud an, unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt.

Das Freud’sche Modell

Im Jahr 1923 veröffentlichte Freud seine Schrift Das Ich und das Es. Darin stellte er die These auf, dass die Psyche des Menschen vom Zusammenwirken dreier Grundkräfte bestimmt wird: Es, Ich und ÜberIch.

Das Es umfasst dabei die Gefühle, Leidenschaften und Triebe, die auf sofortige Befriedigung drängen. Das Ich steht im Austausch mit der Außenwelt. Mithilfe der Fähigkeit des Denkens, lernt das Ich die Außenwelt wahrzunehmen und zu gestalten. Zudem ist seine Aufgabe, die Es-Bedürfnisse zu kontrollieren und angemessen zu befriedigen. Das Über-Ich ist der innere Kritiker. Er entsteht durch Identifizierung mit den Eltern und die Übernahme von sozialen Regeln.

Mit diesem Modell konnte Freud den Prozess der “Verdrängung” erklären. Dabei werden Gefühle und Wünsche, die vom Es ins Ich hochsteigen, häufig unbewusst wieder zurück ins Es abgeschoben. Auch andere psychische Muster konnte Freud mithilfe der drei Instanzen einordnen. Hierzu zählen etwa typische Abwehrmechanismen, wie z. B. die “Verneinung” (Leugnung der äußeren Realität), die “Verschiebung” (die Wut auf den Chef wird auf den Partner abgelassen) oder die “Projektion” (der sprichwörtliche Splitter im Auge des Bruders).  

Freuds Skizze der “oberflächlichen Schichten des seelischen Apparates” in seinem Buch Das Ich und das Es (1923). W-Bw.: Wach-Bewusstsein, Vbw: Vor-Bewusstsein, Vdgt.: das Verdrängte.

Der Mensch ist keine Maschine

Das Bauch-Kopf-Herz-Modell von Raphael Bonelli ähnelt den Freud‘schen Instanzen in wesentlichen Punkten. Das Es und der “Bauch” sind praktisch identisch, wobei Bonelli zusätzlich auch die Angst im Bauch verortet. Freud hingegen verortete die Angst im Ich.

In der Freud‘schen Tiefenpsychologie steht das mächtige Es im ständigen Konflikt mit dem Über-Ich, das die gesellschaftlichen Normen repräsentiert und das Es einzuschränken versucht. Das Ich – was am ehesten Bonellis „Herz“ entspricht – steht dazwischen, ist aber bei Freud schwach und entscheidungsunfähig. Freuds Determinismus, also die Ansicht, dass das menschliche Verhalten durch unbewusste Triebe oder Traumata dominiert würde, gilt heute jedoch als obsolet. Ein überzeugendes Argument für den freien Willen legte der Neurowissenschaftler Joachim Bauer in seinem Buch Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens (2018) dar.

Freuds brillante Leistung, den Bauch – also die Gefühlswelt des Menschen – zu analysieren, ist zu würdigen. Dennoch irrte sich Freud, was die menschliche Freiheit betrifft. Die Fähigkeit des Menschen zu Verantwortung, Schuld, aber auch Vergebung und Versöhnung ist keine Qualität des Es, sondern eine Qualität des reifen Herzens. Der freie Wille unterscheidet den Menschen von der Maschine.  

Freiheit und Reife

Das Herz fehlt in Freuds deterministischem Modell. Anders als das Herz, ist das Freud‘sche Ich nur ein Spielball zwischen dem triebhaften Es und dem kritischen Über-Ich. Das Ich ist schwach, unfrei und willenlos, weder zum Guten noch zum Schlechten fähig. Es sucht automatisch nach dem Weg des geringsten Widerstandes. Das Ich ist ein Reiter, das dem Pferd des Es nicht gewachsen ist.

Doch diese Sicht hat einen Haken: Der reflektierte und reife Mensch ist innerlich frei! Ist das Herz gesund und entscheidungsfreudig, bildet der Mensch einen kultivierten Charakter aus. Der Mensch kann gut werden, wenn sich sein Herz für das Gute entscheidet. Nur wenn er sich von oberflächlichen Dingen und den Impulsen des Bauches ablenken lässt, sodass er auf das Reflektieren und Innehalten verzichtet, wird er unfrei und „getrieben“.

Was tatsächlich häufiger zu einer gestörten Persönlichkeit führt als Freud‘sche Verdrängungen oder Abwehrmechanismen, ist die Unterlassungssünde. Es ist das passive Vermeiden der guten Tat. Hierzu zählt das Ignorieren oder die Rationalisierung der eigenen Tatenlosigkeit. Wegschauen und die ständige Selbstrechtfertigung sind ein Zeichen der Unreife. Nichtstun, wenn beherztes Handeln das Richtige wäre, hindert das persönliche Wachstum und wirkt sich negativ auf Beziehungen aus. Der Mensch kann frei, stark und gut sein, wenn er der Stimme seines Herzens folgt. Das ist es, was eine reife Persönlichkeit ausmacht.

Bildquellen
Ricky Esquivel, https://www.pexels.com/photo/turned-on-floor-lamp-near-sofa-on-a-library-room-1907784/
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