Die Bibel hat unsere europäische Kultur zutiefst geprägt. Auch wenn es uns heute kaum noch bewusst ist, prägen biblische Werte noch immer unser Denken und Handeln. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns selbst als religiös begreifen oder regelmäßig in die Kirche gehen. Die Grundfesten unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens sind von der heiligen Schrift her inspiriert. Es ist aber auch bemerkenswert, welche Wirkung die Bibel auf die Psyche hat. Dr. Raphael Bonelli hat für Sie die Psychologie der Zehn Gebote untersucht. Drei Gebote sind für das persönliche Glück besonders entscheidend.
Zwei Tafeln
Der erste und ältere Teil der Bibel ist sowohl für Juden als auch für Christen heilig ist. Eine Schlüsselstelle im sogenannten Alten Testament sind die „Zehn Gebote“.
Die Zehn Gebote wurden im Rahmen der Exodus-Erzählung offenbart. Exodus bedeutet wörtlich „Auszug“. Der gleichnamige Text beschreibt die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei und dessen Auszug ins gelobte Land. Mit einem Schlag war das Volk unabhängig von den Sklaventreibern. Doch wie sollte sich das freie Individuum ohne Befehlsgeber im Nacken verhalten?
Die Zehn Gebote regeln keine Details des täglichen Lebens, sondern geben eine grobe Orientierung für das richtige Verhalten. Der Erzählung nach schrieb Moses die Zehn Gebote auf zwei Steintafeln. Interessanterweise bestehen die Gebote auch inhaltlich aus zwei verschiedenen Teilen. Die ersten drei Gebote sind relativ ausführlich. Sie regeln die Beziehung zwischen Mensch und Gott (Transzendenz). Die sieben restlichen Gebote sind kurz und knackig formuliert. Sie handeln vom richtigen Umgang der Menschen untereinander. Hier geht es darum, Vater und Mutter zu ehren, das Tötungsverbot, die eheliche Treue und den Respekt vor dem Eigentum anderer.
Anleitung zum Glücklichsein
Das erste Gebot besagt, du sollst nur an einen Gott glauben. Das zweite besagt, du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. Das dritte besagt, du sollst den Ruhetag (Sabbat) ehren. Was die Beziehungen zu anderen Menschen betrifft, trägt jeder Mensch die Zehn Gebote im Grunde bereits im Herzen. Jeder erwartet, dass andere sich an diese grundlegenden Gebote halten. Denn niemand will selbst belogen, betrogen oder bestohlen werden. Niemand möchte geschlagen oder getötet werden. Normalerweise ist auch niemand glücklich, wenn der Partner fremd geht. All das wird von anderen eingefordert, auch wenn man sich nicht immer einfach damit tut, diese Gebote selbst einzuhalten.
Aus psychologischer Sicht sind die Zehn Gebote faszinierend, weil sie dem Menschen erklären, dass er erst einmal mit sich selbst ins Reine kommen muss, bevor er glücklich sein kann. So gesehen, sind die Zehn Gebote eine Anleitung zum glücklichen Leben. Dabei kommen den Geboten, die eigenen Eltern zu respektieren (viertes Gebot), das Leben zu schützen (fünftes Gebot) und die eheliche Treue zu wahren (sechstes Gebot) eine ganz besondere Bedeutung zu.
Den Eltern vergeben
Das vierte Gebot ist aus psychologischer Sicht äußerst bemerkenswert: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“
Frieden mit den eigenen Eltern ist ausschlaggebend für die psychische Gesundheit. Wer innerlich mit seinen Eltern im Konflikt ist, der trägt einen ständigen Stachel mit sich herum. Für viele ist es eine schwere Belastung, wenn die Beziehung zu den Eltern gestört ist. Oft führen sie die Störung auf Fehler der Eltern zurück. Psychologisch gesehen ist aber nicht das Fehlverhalten der Eltern das Problem, sondern, dass man ihnen noch immer nicht verzeihen konnte.
Verzeihen heißt nicht, einfach alles gutzuheißen. Natürlich kann man Schwächen in der Erziehung benennen, z. B. dass die Eltern sich zu wenig gekümmert haben, zu streng oder zu nachlässig waren, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben oder beleidigende Worte sagten usw. Das kann man für sich selbst klarstellen. Aber worum es eigentlich geht, ist es, die Reife zu haben und zu sehen, was die Eltern alles für einen geleistet haben. Das ist der Punkt, wo Dankbarkeit beginnt. Und Dankbarkeit hat eine heilsame Wirkung auf die Psyche.
Der Wert des Lebens
Das fünfte Gebot lautet: „Du sollst nicht töten.“ Viele deuten dieses Gebot etwas weiter und verstehen es als Verbot, anderen Menschen Qualen zuzufügen.
Psychologisch sind es eher Personen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, die auf eine kriminelle Laufbahn geraten. Diese sind einfach nicht in der Lage empathisch zu denken. Andererseits können Drogen und Alkohol Menschen so benebeln, dass sie das Leben anderer gefährden, z. B. wenn sie im Rausch Auto fahren. In diesen Bereich fällt Aggression und Gewalt, auch gegenüber Kindern.
Die körperliche Unversehrtheit ist zu achten. Der Respekt vor dem Körper und der Erhalt der Gesundheit darf aber nicht zu einem absoluten Wert erklärt werden. Körperkult geht zu weit. Heute findet man mehr Menschen in Fitnesscentern als in Kirchen. Auch die Nazis haben den durchtrainierten Körper zum Götzen gemacht. Der heidnische Fokus auf die Gesunden und Starken unter Verachtung der Schwachen und Gebrechlichen führt zu einer Verzerrung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Dann kommt es zum Punkt, wo manche Menschen bestimmen, welches Leben nicht mehr lebenswert ist (Stichworte: Abtreibung, Sterbehilfe, etc.).
Zum Glück spüren die meisten Menschen intuitiv, dass das Leben etwas Heiliges ist. Dieser ursprüngliche Sinn für den Wert des Lebens wird im fünften Gebot reflektiert.
Eheliche Treue
Sechs und Sex, das ist leicht zu merken! Das sechste Gebot lautet: „Du sollst nicht die Ehe brechen.“
Auch dieses Gebot ist für die meisten Menschen rein intuitiv verständlich. Die Sehnsucht danach, mit einem Menschen gemeinsam alt zu werden und eine Familie zu gründen, steckt tief in vielen Menschen. Die Hingabe an den Partner und die Bereitschaft, zueinander zu stehen, auch wenn der Andere nicht mehr so schön, reich oder erfolgreich ist, findet man in allen großen Kulturen. Eheliche Treue ist ein universaler Wert.
Die Behauptung, man könne seine Sexualität auch außerhalb der Ehe ausleben und dass das nichts mit der Beziehung zu tun habe, können Betrogene nie so einfach annehmen. Die offene Ehe ist ein Märchen. Eine Beziehung funktioniert einfach nicht auf Dauer, wenn ein Partner Sex mit jemand anderem hat. Oft ist es die Frau, die sich genötigt sieht, einem solchen Arrangement zuzustimmen, weil sie ihren Mann sonst ganz verlieren würde. Die meisten Menschen können aber eine Dreierbeziehung auf Dauer nicht aufrechterhalten.
Es ist etwas anderes, wenn ein Partner fremdgegangen ist, seinen Fehler bereut und zum Partner zurückkehrt. Dann pocht er nicht auf sein vermeintliches Recht, die Ehe zu brechen, sondern bemüht sich, die Bindung an den Partner wenn möglich wieder zu reparieren. Grundsätzlich ist den meisten Menschen aber klar, dass Fremdgehen eine schwerwiegende Sache ist. Sie kann eine Beziehung zutiefst erschüttern.
Aus psychologischer Sicht ist das sechste Gebot also naheliegend. Die meisten Menschen möchten die Sexualität innerhalb einer intimen Beziehung bewahren. Dementsprechend sind sie auch bereit, das Eheversprechen zu geben. Es ist ein sicherer Weg zum Glück und weniger Stress, wenn man seinem Ehepartner vollauf vertrauen kann. Das gibt einem die Sicherheit, dass der Partner zu einem stehen und bei einem bleiben wird. Die Ehe ist etwas Permanentes. Sie ist nicht von einem Gefühl oder einer bestimmten Leistung abhängig. Sie muss nicht jeden Tag neu infrage gestellt werden. Die Ehe ist dann eine Entscheidung des Herzens.
Kurzum: Die Richtschnur der Zehn Gebote für das alte Volk Israel ist zeitlos. Sie gilt auch für den modernen Menschen. Wer seine Eltern respektiert, das Leben schützt und seinem Partner treu ist, der lebt ein Stück biblischer Lebensweisheit – auch wenn es ihm nicht bewusst ist.